Konstruierter Prozess
Die letzten drei Jahrtausende war die Malkunst klar positioniert. Der Maler hatte für hochgestellte Persönlichkeiten Sachverhalte bildhaft zu dokumentieren. Repräsentation war der Hauptzweck. Auch Erweckung von Ehrfurcht, Gläubigkeit und Mythenbildung über tatsächlich stattgefundene oder aber manipulativ behauptete historische Ereignisse war die Triebfeder fü1r malerische Aktivitäten. Der Maler war in erster Linie Handwerker und Dienstleiser der Mächtigen. Erst mit der Erfindung der Fotografie endete diese lange Epoche der Malerei. Die zweckgebundene Herstellung von Bildern geriet in eine Sinnkrise. Das Abbildungsmonopol geriet ins Wanken. Es begann eine Phase der Selbsterkenntnis der Malerei, die zur Grundlage der Moderne wurde. Die vier Elemente: Künstler, Werk, Motiv und Betrachter und deren Interaktion traten in den Fokus des Kunstdiskurses. Der Künstler begann sich selbst und die anderen Elemente des Kunstprozesses zu hinterfragen. Jedem der vier Elemente hat sich später ein ,,‐ismus" angehängt: Dem Künstler als Person und seiner Befindlichkeit während des Malens der "Expressionismus": Dem Werk selbst in seiner dinglichen Existenz und Seinsweise der Begriff "Konkrete Kunst". Mit den gewählten Motiven verbinden sich Begriffe wie "Naturalismus", "Surrealismus" oder "Suprematismus". Mit der Wirkung des Werks auf den Betrachter befasst sich der "Impressionismus". Mit der spontanen oder durchkalkulierten Zugangsweise zum Kunstwerdungsprozess die "Art Brut" und der "Konstruktivismus". Mit all diesen Begriffen wird versucht, die Vielfalt der Strömungen und Interessen der Künstler in eine Überschaubarkeit zu pressen, was eigentlich völlig konträr zum Bestreben der Künstler steht, die ja jeder für sich die absolute Alleinstellung suchen. Damit begann auch der Disput über die Bedeutung der Begriffe "abstrakt" und "konkret", der bis heute die Gemüter der Kunstliebhaber erhitzt. Abstraktion ist ein Prozess, der sich zwischen Motiv und Werk abspielt. Wählt der Künstler ein Motiv aus, kann er es beim malen auf das Wesentliche reduzieren und damit in seinem Sinne schärfer fassen. Er abstrahiert das ursprüngliche Motiv. Anders Karl Schnetzinger. Er malt ungegenständlich. Er schöpft das Motiv seiner Bilder nicht aus der ihn umgebenden Natur, sondern aus sich selbst. In diesem Sinne steht er der Art Brut sehr nahe. Die Art Brut zeichnet sich durch eine unverbildete Unmittelbarkeit zwischen Künstler und Werk aus, die von keiner anderen Kunstrichtung erreicht wird. Der abstrakte Maler Karl Schnetzinger kann aber eine gewisse intellektuelle Raffinesse in seinen Kompositionen nicht verleugnen. Er hat immerhin bei einem Meister der Malerei, Rudolf Hausner, studiert, allerdings hat er sich sehr weit von seinem Lehrer wegentwickelt. Hausner ist ein Beispiel für einen Künstler, der fast fotorealistische Bilder mit psychoanalytischem Tiefgang von seinem Alter Ego, dem Adam, malte. Schnetzinger ist eher dem Expressionismus zuzurechnen, weil er seine körperliche Motorik mit kräftigem, fast ungeduldigen Gestus und schweren pastosen Farben in leuchtenden Farbtönen auf die Leinwand bringt. Die Endmuränen gleichenden Farbhügel am Ende seiner breiten Striche bezeugen einen Hang zur üppigen Verwendung des Materials Farbe. Mit dieser körperbetonten maskulinen Malerei unterscheidet sich Schnetzinger von der Auffassung der Konstruktivisten, für die Kunst ein wohldurchdacht konstruierter Prozess der Intervention in einen bestimmten Weltausschnitt darstellt, der manchmal eine weiße Leinwand sein kann. Da geht es nicht mehr notweniger Weise um die Auseinandersetzung mit der Farbe als Material und sinnliches Medium, sondern um die Erkenntnis des Kunstwerdens selbst und dessen vielfältiger Auswirkung auf die Gesellschaft. Kann Schnetzinger seine Kunst nur mit Farbe auf der Leinwand ausüben, hat der Konstruktivist die ganze Welt als Objekt seiner Betätigung. Er kann mit "Menschen malen" indem er in die Gesellschaft interveniert, indem er sich Experimente ausdenkt, die irgendetwas verändern. Als konkreter Konstruktivist belässt er es aber nicht beim Konzept, sondern er führt es auch aus. Dabei ist es für die künstlerische Befriedigung unerheblich ob das Experiment Erfolg hat oder scheitert. Der konkrete Konstruktivist muss damit leben, dass seine Kunstwerke selten als solche erkannt werden, sie werden meist als etwas Anderes verstanden, als Wirtschaftsprojekte, politische Interventionen oder einfach als Niederlagen. Damit ist das andere Extrem der Abstraktheit erreicht. Auf dem begrenzten Weiß der Leinwand spielt sich die ganze Welt der Malerei ab. Immer schon war es die Sehnsucht des Malers diese Begrenztheit zu durchbrechen. Angefangen von der Farbdicke die wie bei Schnetzinger ein klein wenig Schatten wirft, so wie die höchsten Gebirge der Erde aus dem Weltraum betrachtet über die Versuche Lucio Fontanas durch Schnitte in die Leinwand die dritte Dimension heran zu locken, bis hin zu den Theorien eines Joseph Beuys, der von "sozialen Skulpturen" fabulierte. Wo steht in diesem Spektrum Karl Schnetzinger? Er ist konkret in seiner konsequenten Methode der Farb‐Form‐Kompositionen. Er ist "brut" in seiner Handhabung des Werkzeuges, der Spachtel. Er ist expressiv in seinem Gestus und der Faktura seiner Morpheme, jener Farb‐Form‐Elemente, die das Ergebnis jeder seiner gezogenen und oft abrupt abgestoppten Spachtelzügen ist. Aber er ist auch konstruktiv in der klar erkennbaren Methode seines Bildaufbaues, der ein gewisses Maß an ingenieursmäßigem Kalkül aufweist, das ihn von der Innozenz der Art Brutdeutlich unterscheidet.